22. Dezember: Else Jaffé-von Richthofen (1874–1973)
Nationalökonomin, Fabrikinspektorin und Exponentin der sexuellen Emanzipation


Else Jaffé-von Richthofen
Die Neue Frauenbewegung war in voller Fahrt, als am 22. Dezember 1973 Else Jaffé, die erste akademisch gebildete Fabrikinspektorin, verstarb. Als ein 'role model' der bürgerlichen Frauenbewegung des Kaiserreichs weitgehend vergessen, nahm Else Jaffés Bekanntheitsgrad in Wissenschaftskreisen als Liebe berühmter Männer an ihrem Lebensende dagegen zu. Wie passen beide Facetten zusammen?
Das am 8. Oktober 1874 geborene Freifräulein Elisabeth von Richthofen entstammte gewissermaßen adligem Prekariat. Wohl deshalb, aber auch aus Neigung, wurde die älteste von drei Töchtern zunächst Lehrerin. Nicht zufällig kam sie 1897 über die Bekanntschaft mit Marianne und Max Weber dann zum Studium der Nationalökonomie.
Beide Webers - sie später Vorsitzende des Bundes deutscher Frauenvereine und er ein berühmter Soziologe - mischten mit, als die Fabrikinspektion des Großherzogtums Baden endlich eine dezidiert für die Belange der Arbeiterinnen zuständige Stelle einrichtete. Gesucht wurde dafür eine Wissenschaftlerin, denn die Vorläuferin der Gewerbeaufsicht war eher eine Art von sozialwissenschaftlichem Institut, das die Lage der Arbeiterschaft erforschte, als eine Aufsichtsbehörde.
Akademikerinnen waren bekanntermaßen Mangelware in einer Zeit, in denen Frauen an Universitäten nur ausnahmsweise als "Hörerinnen" geduldet waren. Max Weber und Friedrich Woerishoffer, der Leiter der Fabrikinspektion, bauten deshalb Else von Richthofen systematisch über ein Studium an den Universitäten Heidelberg und Berlin zur Fabrikinspektorin in spe auf. 'Nebenbei' beobachtete die angehende Fabrikinspektorin in einer empirischen Studie für den Verein für Socialpolitik Lebensumstände ihrer künftigen Klientel. In Jeanette Schwerins Berliner Initiativen bekam sie Anregungen für soziale Arbeit anstelle der üblichen Wohltätigkeit.
Trotzdem war ein Praxisschock unvermeidlich, als Else von Richthofen 1900 ihre Stelle antrat. Es gab keine konkrete Stellenbeschreibung und erst wenige englische Vorbilder zur Orientierung. Dazu kam, dass die promovierte Fabrikinspektorin progressivere Ziele verfolgte als Großherzogin Luise mit ihrem omnipräsenten Badischen Frauenverein.
Nicht zuletzt quälte Else von Richthofen ein innerer Zwiespalt: Wollte oder sollte sie auf Ehe und Familie zugunsten ihres Berufs verzichten? Beides zusammenzudenken oder gar als Einheit zu leben, war für sie eine Utopie (und keine Notwendigkeit, wie für viele der von ihr Betreuten). So wählte sie 1902 tatsächlich das Leben als Ehefrau und schließlich vierfache Mutter.
Ein Rückzug ins Konventionelle? Als nunmehrige, in Heidelberg beheimatete Frau Dr. Jaffé blieb sie der bürgerlichen Frauenbewegung noch viele Jahre verbunden, unterstützte Marianne Weber im Verein Frauenbildung-Frauenstudium und war im Bund deutscher Frauenvereine aktiv. Dem badischen Ableger des linksliberalen Nationalsozialen Vereins schrieb sie gemeinsam mit Marianne Weber und Marie Baum, ihrer Amtsnachfolgerin, die Forderung nach dem Frauenwahlrecht ins Programm. Auch wirkte sie zeitweilig als Redakteurin der angesehenen Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (seit 1904 von ihrem Mann Edgar u.a. mit Max Weber herausgegeben) sowie als Übersetzerin etwa der Werke ihres Schwagers D.H. Lawrence.
Als die sogenannte erotische Bewegung um die Jahrhundertwende von der Münchner Bohème auf akademische Zirkel Heidelbergs überschwappte, war Else Jaffé mittendrin und auf dem Weg zur sexuellen Emanzipation. Sie praktizierte eine Zeit lang Libertinage, hatte eine innige Romanze mit Max Weber und schließlich eine lebenslange Beziehung mit dessen Bruder Alfred. Ihre Lebensweise verstand Else Jaffé als eine sehr persönliche Wahl und keineswegs als politisch. Dennoch, so befand Ingrid Gilcher-Holtey, wurde Else Jaffé auch damit zur Exponentin eines neuen weiblichen Lebensstils.
Weiterführende Literatur und Quellen:
Wolfgang Bocks: Die badische Fabrikinspektion. Arbeiterschutz, Arbeiterverhältnisse und Arbeiterbewegung in Baden 1879 bis 1914. Freiburg, München 1978.
Eberhard Demm: Else Jaffe-von Richthofen. Erfülltes Leben zwischen Max und Alfred Weber. Düsseldorf 2014.
Ingrid Gilcher-Holtey: Modelle "moderner" Weiblichkeit. Diskussionen im akademischen Milieu Heidelbergs um 1900, in: Bärbel Meurer (Hg.): Marianne Weber. Beiträge zu Werk und Person. Tübingen 2004, S. [29]-58.
Martin Green: Else und Frieda. Die Richthofen-Schwestern. München 1976.
Bildquelle: Wikimedia Commons
Autorin: Sybille Oßwald-Bargende

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