16. Mai: Dr. Dorothee von Velsen (1883–1970)
Einflussreiche Frauenrechtlerin, promovierte Historikerin und liberale ‚Weltbürgerin‘


Ein Straßenschild im oberbayrischen Ried erinnert an Dorothee von Velsen
Am 16. Mai 1970 starb Dr. Dorothee von Velsen. Die gebürtige Oberschlesierin, die in Berlin zur liberalen Frauenbewegung um Helene Lange (1848–1930) und Gertrud Bäumer (1873–1954) fand und Karriere in inter-/nationalen Frauenbewegungs-organisationen machte, knüpfte autobiografische Erinnerungen an Baden. Während sie selbst unermüdlich weiblicher Leistungen gedachte, geriet ihr Name in Vergessenheit: Wer war die einst inter-/national als ‚weltoffen‘ geschätzte Vordenkerin?
Dorothee von Velsen kam am 29. November 1883 im heute polnischen, damals preußischen Zabrze zur Welt. Ihre wohlhabenden Eltern Anna Loerbroks (1856-1910, verh. von Velsen) und der Bergbaudirektor Gustav Julius von Velsen (1847-1923), ab 1900 sesshaft in Berlin, erzogen ihre drei Töchter Elisabeth (1881-1966, verh. von dem Borne), Dorothee und Ruth (1892-1970, verh. Fraenkel-von Velsen) zu „gesitteten junge Damen". Diese Erziehung umfasste Literatur-, Kultur- und Sprachkenntnisse, Konversation und Hauswirtschaftslehre. Politische Bildung war nicht vorgesehen, sondern war als „Männergeschäft" für Frauen bis 1908 per Gesetz verboten.
Je älter von Velsen wurde, desto einschränkender empfand sie die idealisierte Lebensaufgabe als Ehefrau. Mit 25 Jahren meldete sie sich 1909 an der damals neuen Sozialen Frauenschule Berlin von Alice Salomon (1872-1948) an - der Hotspot der Frauenbewegung, an dem Dozent*innen wie Marie Baum (1874-1964) usf. die zunehmend professionalisierte ‚Soziale Arbeit‘ als feministische „Frauenarbeit" lehrten.
Im Jahr 1911 beteiligte sich von Velsen erstmals in Heidelberg an der Generalversammlung des Bund Deutscher Frauenvereine (BDF). Eine ihrer Vorbilder vor Ort war Marianne Weber (1870-1954); mit ihr begann von Velsen nach dem Ersten Weltkrieg eine lebenslange Freundinnenschaft. Zwischen 1915-18 leitete von Velsen u.a. mit Marie-Elisabeth Lüders (1878-1966) in verschiedenen besetzten Kriegsgebieten vom deutschen Militär lancierte bevölkerungspolitische Maßnahmen.
Nach ihrer Rückkehr aus Kiew 1918 zog sie wieder zu ihrem Vater in Berlin, dessen Haushalt sie bis zu seinem Tod 1923 als einzige ledige Tochter führte. Daneben übernahm sie u.a. die Geschäftsstellen des Kulturausschusses der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) sowie die des BDF. Auch saß sie dem Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF)/Deutscher Staatsbürgerinnenverband vor und arbeitete in der International Woman Suffrage Alliance (IWSA). Nach 1923 gab sie einen Teil ihrer Aufgaben ab, um ihrem Wunsch nach „geistiger Arbeit" zu folgen. Sie zog Mitte der 1920er Jahre nach Heidelberg.
Mit Leidenschaft widmete sich von Velsen ihren philosophischen und religions-/historischen Studien und führte intensiven Austausch im Heidelberger ‚Weber-Kreis‘. Sie knüpfte u.a. engen Kontakt zu Ricarda Huch (1864-1947) und Dr. Ruth von Schulze-Gaevernitz (1898-1993). Kurz nachdem von Velsen 1931 über eine Studie zur Gegenreformation promoviert wurde, waren die vom NS begeisterten Studentenverbindungen und der rechtskonservative Geist des alt/adligen Bürgertums zu viel für die liberale - wenn auch durchweg nationalloyale - Demokratin: 1933 zog sie in ihr selbstgebautes Landhaus im oberbayrischen Ried/Kochel am See.
Dort lebte sie als erfolgreiche Schriftstellerin: Im selbsternannten ‚inneren Exil‘ bot sie ihren Nachbar*innen und Freund*innen Schutz vor Verfolgung und Erholung vom Stadtleben. Auch blendete sie tagesaktuelle Nachrichten mithilfe der Schriftstellerei aus. So nutzte sie ihre akademisch geschulte Kompetenz zum Verfassen populärhistorischer Bücher, die ihr Zubrot und Ansehen brachten.
Nach der alliierten Befreiung setzte von Velsen alle Kräfte in den Wiederaufbau eines demokratischen Deutschlands inklusive weiblicher politischer Mitsprache. Nach einstigem Vorbild beteiligte sie sich mit ehemaligen Mitstreiter*innen an den Neugründungen alter Frauenbewegungsorganisationen, darunter der Deutsche Frauenring und der Deutsche Frauenrat. Sie engagierte sich bis zu ihrem Tod am 16. Mai 1970 für eines ihrer Lebensprojekte: Die möglichst breitenwirksame Erinnerung an (historische) Frauen, Mitstreiter*innen und Frauenbewegungsaktivitäten.
Weiterführende Literatur und Quellen:

Höfner, Mirjam: »"... dem genius loci zuliebe". Dorothee von Velsens Erinnerungen an Heidelberg«, in: Sabine Holtz/Sylvia Schraut (Hg.), 100 Jahre Frauenwahlrecht im deutschen Südwesten. Eine Bilanz, Stuttgart: Kohlhammer 2020, S. 147-168.
Schaser, Angelika: »Eingeschrieben? Geschlecht in Autobiographien der ersten Politikerinnen in Deutschland«, in: L'Homme Z. F. G. 24 (2013), S. 23-38.
Schraut, Sylvia: Bürgerinnen im Kaiserreich. Biografie eines Lebensstils (= Mensch - Zeit - Geschichte), Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2013.
Stoehr, Irene: Emanzipation zum Staat? Der Allgemeine Deutsche Frauenverein-Deutscher Staatsbürgerinnenverband, 1893-1933 (= Forum Frauengeschichte, Bd. 5), Pfaffenweiler: Centaurus 1990.
Wedel, Gudrun: »Weltoffen und unbekannt: Dorothee von Velsen (1883-1970)«, in: Irina Hundt (Hg.), Über Grenzen hinweg. Zur Geschichte der Frauenstimmrechtsbewegung und zur Problematik der transnationalen Beziehungen in der deutschen Frauenbewegung. Ergebnisse des internationalen Symposions des Deutschen Staatsbürgerinnen-Verbandes e.V. am 3./4. September 2004 anläßlich des 100. Jubiläums der Internationalen Alliance of Women (IAW), Berlin 2007, S. 221-235.
Velsen, Dorothee v.: Im Alter die Fülle. Erinnerungen, Tübingen: Wunderlich 1956.

Bildquelle: Bianca Walther mit herzlichem Dank, auch für ihren Einsatz für die Erinnerung an Frauengeschichte/n auf Twitter und über ihren Blog.

Autorin: Mirjam Höfner

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